Hexen und Hunger Der Höhepunkt der Hexenverfolgung in Deutschland (1570-1700) fällt mit dem Dreißigjährigen Krieg zusammen (1618-1648). Ihren Ursprung hatte die Hexenverfolgung aber in den Schweizer Alpentälern, während der sog. "Kleinen Eiszeit" (1348-1648). Einige sagen, diese wurde durch die Verringerung menschlicher Aktivitäten nach der Entvölkerung Europas durch die Pestzüge (1347-1352) mit ausgelöst. Es kam wohl viel zusammen. Die ersten Hundert Jahre sogar mit dem Hundertjährigen Krieg (1339-1453). Die Hungersnöte auf Grund von schlechtem Wetter und Mißernten begannen in Europa jedoch bereits ab 1300 und steigerten sich dann bis 1317-1325. Die große Hungersnot beendete eine über 200-jährige Periode starken Bevölkerungswachstums - vielleicht wurde sie auch durch dieses ausgelöst. Hexenverfolgung bedeutet zunächst einmal, viele Menschen zu töten, vor allem "überflüssige Esser", z. B. Witwen & alte Frauen, die sich unbeliebt gemacht hatten. Man darf nicht vergessen, daß in der Zeit ja auch ganz nebenbei wesentlich mehr Menschen verbrannt, umgebracht und gefoltert wurden oder schlicht verhungerten, die nicht unbedingt alt oder weiblich waren; es herrschte seit Jahren Krieg, Mißernten und Hungersnot im Land. Denn was heißt alt? Für die meisten Leute gab es in dieser Zeit normalerweise nie genug zu essen, und das Leben war ein relativ kurzer und brutaler Kampf bis zu einem Höchstalter von vielleicht 30 Jahren, ein Alter, in dem das Berufsleben heutzutage manchmal erst beginnt (Napoleon war 30, als er hunderte von Jahren später Herrscher über ganz Frankreich wurde; mit 26 war er Oberbefehlshaber der französischen Armee, mit 28 Herrscher über Ägypten). Selbst im Hochadel lag die Lebenserwartung in Durchschnitt bei knapp über 30 Jahren und sank während der Pestzüge noch einmal auf unter 20. Die arme Landbevölkerung hatte dagegen überhaupt keine Reserven, da Ernteüberschüsse, so es sie überhaupt gab, nie länger als ein Jahr gelagert werden konnten und wurden. Bei mehrjährigen Mißernten schlachtete man dann erst die Zugtiere, dann aß man das Saatgetreide, dann nichts mehr, dann sich gegenseitig und setzte die Kinder aus, um nicht auch noch über diese herzufallen. Mord und Raubmord nahmen zu. Am Ende herrschte in Europa eine gewalttätige, abergläubische, endzeitliche Kultur, durchzogen von endlosen Kriegen, die dann der Rest der Welt auch zu spüren bekam, als die Eroberungen begannen. Die zentrale Kirche und feudale Regierungen hatten in den Augen der Leute versagt, Bürgerkrieg, Religionskrieg und Revolution waren die Folge. Die bis dahin gültige katholische kirchliche Lösung "mehr Kinder kriegen" war ihnen angesichts des Sterbens nicht genug, sie nahmen die Sache jetzt selbst in die Hand. es war die Geburtsstunde des Protestantismus und der katholischen Bürgergesellschaft. Der "irische Konflikt" ist der letzte Nachhall dieser europäischen Hungerzeiten, ausgelöst durch deren eigene Feudalstruktur und Hungersnot 1845, in der ein Großteil der Bevölkerung auswanderte oder starb. Man darf auch nicht vergessen, daß die Menschen in Agrargesellschaften grundsätzlich am Rande des Hungertodes dahinlebten; kaum einer wurde größer als 1 Meter 50. Eine einzige Mißernte bedeutet viel Hunger und viele Hungertote. Auch das Gebären an sich war lebensgefährlich. Was war dagegen schon eine verbrannte Hexe? Wenn diese unter Umständen auch noch vorher behauptet hatte, (gegen Geld oder etwas zu Essen- ältere Frauen hatten kaum eine andere Möglichkeit, sich zu ernähren, und wehe, sie gingen der Prostitution nach, was durchaus vorkam, das handelte ihnen sofort den Ruf der Hexerei ein!) Leben, Ernten und Fruchtbarkeit positiv beeinflussen zu können, nahm man sie, als es schlecht lief, beim Wort und nahm ihr übel, wenn es ausblieb. "Fruchtbarkeit" wurde dabei durchaus sexualisiert gesehen: So hoppelten angeblich um Ostern herum, also vor der ersten Aussaat im Frühjahr, vornehmlich die (unfruchtbaren) Alten mit zwischen die Beine geklemmten Stöcken wie die Hasen über die Felder und mimten so "Befruchtung" -woraus womöglich dann der Ritt auf dem Hexenbesen entstand (dazu dazu brauchte man dann auch die Eier). Den Anspruch der Kirche, es läge an Gott oder den Menschen selber, wenn etwas einmal nicht so liefe wie sie es sich wünschten, den hatte sie ja vorher abgelehnt und sich für ihre Dienste als Wunderheiler ("Hexen") bezahlen lassen. Alte Frauen sind aber für junge Frauen ein Gräuel -wie ja auch umgekehrt. Sie wollen nicht so werden, sie werden aber so, und sie haben Angst davor. Alte Frauen, speziell die im Wald, können unglaublich zotig sein. Andererseits ist das "Besenreiten" natürlich auch eine weibliche Masturbationstechnik - und zwar genau so, wie es immer dargestellt wird. Das machten sie einander, wenn überhaupt, natürlich nur dann vor, wenn sie glaubten unter sich zu sein. Und zwar die alten den jungen, heimlich, wie es auch heute noch geschieht - das war dann der "Hexensabbat", auch nicht anders als heute. Oder eben in aller öffentlichen beim osterlichen über-das-Feld-Hoppeln. Homosexualität, auch weibliche, war im Mittelalter jedoch eine todeswürdige Angelegenheit. Und wer da nicht ins Kloster ausweichen konnte, hatte schlechte Karten. In Kriegs- und Hungerzeiten, in denen viel und jung gestorben wird, ist Fruchtbarkeit sowohl der Nahrung bringenden Felder als auch der Nahrung verbrauchenden Menschen und Tiere ein wichtiges Thema. Darüber hinaus sind traumatisierte Menschen von ihre Angst besessen, und in Zeiten der Angst und Unsicherheit suchen die Menschen nach Sicherheit und der Befreiung von ihrer Angst- also bringen sie Opfer und suchen nach Gründen und Schuldigen für ihre Misere; dieses natürlich außerhalb der eigenen Person. Außerdem wurden in Hungerzeiten durchaus Kinder gegessen, die hoffentlich (vorher) gestorben waren und nicht getötet wurden. Wenn nun ein Kind nach der Geburt starb, lag in den hungervernebelten Gehirnen der Verdacht nahe, daß die Hebamme oder die Wochenbettpflegerin, der das Kind unter den Händen starb, und die als häufig alte Frau selber kurz vor dem Verhungern war, es sich unter den Nagel riß, in der Kiepe, in der sie ihre Nahrung sammelte, oder unter der Schürze verbarg und im Waldversteck sich mit ihren ebenso halbverhungerten und zerlumpten Leidensgenossinnen daraus eine Suppe kochte, oder daß sie es sich aus dem Gebüsch holte, in dem man es oder die Nachgeburt hineingeworfen hatte. Es ist ja nicht so, daß dergleichen nie geschah. In den Hungergebieten des afrikanischen Regenwaldes aßen die alten (und jungen) Frauen die Gehirne der Verstorbenen und infizierten sich so mit kiri kiri, dem "lachenden Tod"- einer Art menschlichem BSE. Natürlich nannte man das ganze, um der gräßlichen Nahrungszufuhr das Entsetzen und den Ekel zu nehmen, "rituell"- aber eine Nahrungsaufnahme war es trotzdem. Auch die Nachgeburt wurde häufig "rituell" verspeist. Doch Nahrung ist Nahrung, und der Grat zwischen Überleben und Verhungern ist schmal. Über Monate hinweg gibt es manchmal nichts Neues zu Essen. Und so gab es eigentlich zwei religiöse Fastenzeiten: eine vor Weihnachten und eine vor Ostern. Der Hexensabbat war so auch eine Hexenmahlzeit - Verhungernde aßen in ihrer Not eine ekelhafte Suppe aus toten Fröschen und anderem Kleingetier mit allerlei gerade noch so genießbarem Unkraut, was immer sie sammeln konnten - und vielleicht auch Teilen von toten Neugeborenen. Auch die Marodeure ("Invaliden") Europas und die Banditen ("Verbündeten") Amerikas begingen wie die Piraten zur See ihre Verbrechen und Überfälle oft aus schlichter Not - sie wären sonst verhungert. Kannibalismus wurde nie gerne gesehen, geschah aber noch im zweiten Weltkrieg in Europa und danach in der großen Hungersnot in China. Hänsel und Gretel, das Urmärchen der Deutschen, ist die Geschichte einer Kinderaussetzung in Hungerzeiten mit der anschließenden Beschuldigung einer alten Frau in einer Waldhütte, welche die Kinder aufgenommen hatte und für die sie arbeiten mußten, um nicht alle miteinander zu verhungern -wobei sie dem kleineren Jungen durchaus wünschte, er möge kräftiger werden, und ihm deshalb mehr zu essen gab als dem immer noch hungernden Mädchen- als Hexe und Kannibalin und deren Hinrichtung durch Verbrennen. Wer dadurch übrigens ohne Anschuldigung und Hinrichtung davonkamen, waren die aussetzenden Eltern, speziell die Mutter. Das Phantasieren der alten Hütte, von der die Kinder das Moos kratzten und aus der es nach Nahrung roch, als Lebkuchenhaus, war eine Hungerphantasie der Kinder gewesen, reichte aber als Beweis der Zauberei aus, ebenso wie die Beschreibung des Mädchens über die "Mast" des Bruders für den Vorwurf des beabsichtigten Kannibalismus. Es ist die Beschreibung einer Hexenverbrennung. Jenseits aller teilweise widersprüchlicher Ausschmückung, die mündlich überlieferten Märchen so eigen ist, schält sich in etwa folgende Geschichte heraus: Eine arme Familie mit zwei kleinen Kindern: Vater, Mutter, (manchmal auch Stiefmutter, eine bekannt böse Figur in der Zeit, da in harten Zeiten das Hemd näher ist als der Rock: Mütter starben bei der Geburt, Witwer waren häufig, die Ehe ein Versorgungsinstitut, wer speziell in Hungerzeiten überleben wollte, mußte hart sein) Tochter und Sohn ist am verhungern. Die Mutter schlägt vor, die Kinder auszusetzen. Der schwache Vater (ein immer wieder vorkommender Archetyp in Grimms Märchen) gibt wider seinem Gefühl nach. Die Kinder bekommen das mit, können sich aber nicht wehren. Die ausgesetzten und verhungernden Kinder treffen im Wald auf eine Hütte aus Lebkuchen, einer unerhörten Luxusnahrung, genau das, was verhungernde Kinder phantasieren... darin wohnt eine böse Hexe, welche das Mädchen arbeiten läßt und den Jungen mästet, um ihn später zu verspeisen (Essen ist also genug da in dieser Phantasie, es wird aber nur zu gräßlichen Bedingungen herausgegeben). Das Mädchen überlistet und tötet die böse Hexe (die böse Mutter) und rettet so sich und den Bruder. Frohe Wiedervereinigung mit dem (bemerkenswerterweise!) inzwischen wieder verwitweten Vater. Anders ist die Situation nicht aufzulösen: entweder sterben beide (zwei) Kinder oder ein Erwachsener, um den Hunger der anderen zu verringern. In der Phantasie tötet das Mädchen die Mutter, um sich und den Bruder zu retten und mit dem Vater zu leben (die Mutter zu ersetzen). Die böse Mutter mutiert zur Hexe. Aus Aussetzen zum Verhungern wegen Hunger wird in der Phantasie der Kinder ein kannibalistischer Mord; aber vielleicht auch oft genug in der Realität. Auflösung durch Ermordung der kannibalistischen Mutter, die versuchte, durch Opfern des Sohnes (wenn nicht sogar beider Kinder) selber am Leben zu bleiben. Im Alten Testament greift an dieser Stelle Gott ein und hält den Arm des Vaters auf. Wichtig: Die Tochter muß der Mutter/Hexe bei der Vorbereitung des kannibalistischen Mordes am Sohn helfen, wechselt aber die Seiten und stößt die Mutter vom Sockel in den Ofen, und sich und den Bruder zu retten. Auch im Protest gegen den Vietnamkrieg äußerte sich ähnliches: Die Schwester löste sich von der Mutter, um den Bruder zu retten. Frauen wurden zu Gefährtinnen. Die alte Generation wurde zu Gunsten der jungen geopfert, nicht umgekehrt. "Im Frieden begraben die Söhne die Väter, im Krieg ist es umgekehrt". "Wenn man Frauen gewähren läßt, kommt immer etwas schlimmes (nichts gutes) dabei heraus"- Tenor bei den Brüdern Grimm. Wohl, weil sie dann verantwortungslos im Wortsinne handeln. Das scheint die Erkenntnis der Zeit gewesen zu sein. Starke Mütter- schwache Väter- verlorene Kinder. Es GAB ja Hexenverbrennungen. Hinzu kam, daß alte Frauen nicht nur als Krankenpflegerinnen, sondern auch als Hebammen, aber auch als "Engelmacherinnen" gefragt waren, um - verbotene!- Abtreibungen durchzuführen; eine Anschuldigung, die schnell zum Tode führte, besonders wenn die Mutter auch noch an der mit groben Mitteln vollzogenen Abtreibung starb. Nach Pest, Hunger und Krieg lag Europa derart danieder, daß man bereits begann, Sklaven einzuführen; überdies war inzwischen Amerika entdeckt worden, und der Wettlauf um die Weltherrschaft hatte begonnen. Man brauchte dringend Nachwuchs. Neben ihrem geradezu notgedrungen erworbenen Wissen um giftige, heilende und berauschende Pilze und Kräuter hantierten die Abtreiberinnen mit "Mutterkorn", einem giftigen Getreidepilz, der neben Durchblutungsstörungen wahnhafte Angst, halluzinatorische Alpträume und religiöses Fieber ("heiliges Feuer") hervorrief, und der besonders bei schlechten Ernten in nassen Jahren auftrat. Da das arme Volk das verdorbene Getreide trotzdem essen mußte, sollen ganze Hexenverfolgungen in Notzeiten auch durch die Massenvergiftung durch das Mutter- oder Hungerkorn ausgelöst worden sein. Unter der vielleicht auch nur primitiven Folter -oder deren Androhung- wurden in systematischen Hexenprozessen dann alle Frauen beschuldigt, die dabei gewesen waren oder deren man sich auch nur erinnerte. Dadurch wurden die Anschuldigungen zu Beziehungstaten; vor allem, als man herausbekommen hatte, wie gut man damit auch ohne aktuellen Anlaß alte und neue Rechnungen begleichen und sich nebenbei den Besitz der Nachbarin unter den Nagel reißen konnte- vorausgesetzt, man war mit der Anschuldigung schneller als diese. So wurde es zum Schluß, wie immer, ein Wettlauf um den Tod- vor allem dort, wo in Folge von Krieg und Hungersnot die Justiz zusammengebrochen war und Lynchjustiz herrschte.