Darwin und die Physiker Verschiedene Texte 1859 veröffentlichte Charles Darwin sein lange unter Verschluß gehaltenes Werk "The Origin of Species" ("Der Ursprung der Arten" oder "Die Entstehung der Arten"), in der er den Menschen als Teil der Schöpfung beschrieb, nicht als ihr Ziel. "Survival of the fittest"- was das bedeutet das eigentlich? "Überleben des/der tauglichsten?" Schwierig. Möglicherweise unmöglich genau zu sagen. Es ist nicht nur die Mehrdeutigkeit der englischen Sprache und die Unübersetzbarkeit ins Deutsche: Darwin hat wohl absichtlich offene Begriffe gewählt. Englische (angelsächsische) Wissenschaftler neigen oder neigten eher dazu, auf einer breiten empirischen Grundlage sehr vorsichtige Schlüsse zu ziehen- die Deutschen oder Kontinentalen eher umgekehrt. Hinzu kommt, daß die Evolutionstheorie zum ersten Mal (?) den physikalischen Ursache- Wirkungs- Begriff erweiterte oder auflöste, speziell mit Darwins Formulierung. Zum ersten Mal wurden ernsthaft solche Begriffe wie Wahrscheinlichkeit, Statistik, Zufall in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt und nach anfänglicher Ablehnung durch die Physik -der "Königin der Wissenschaften" anerkannt- und zwar erst nach der Entdeckung des natürlichen radioaktiven Zerfalls, welche ja auch eine Veränderung bewirkt. Überdies führte die Entdeckung der natürlichen Radioaktivität (als eine die Abkühlung der Erde verhindernde innere Energie- oder Wärmequelle) zur wissenschaftlich begründeten Erweiterung des Erdalters um die für die Evolution notwendigen Größenordnungen. Nach der Veröffentlichung von Darwins Theorie war die Physik zunächst dagegen gewesen, weil die Erde dafür zu jung sei- erst 20 Millionen Jahre. Diese Berechnung beruhte auf reiner Thermodynamik (der Abkühlung der Erde). Erst als mit dem Radium die natürliche Radioaktivität entdeckt worden war, wurde das theoretische Alter der Erde enorm verlängert- war schon damals die Radioaktivität als Ursache der Erdwärme erkannt? Und erst danach konnte die Physik die Evolution als Möglichkeit akzeptieren- also erst nachdem sie ihren eigenen Fehler beseitigt oder vielmehr ihre eigenen Annahmen korrigiert hatte. Ein Systemimmanenter Fehler war es ja nicht, im Gegenteil. Und obwohl Darwins Theorie damit ja längst noch nicht bewiesen war, hat oder konnte erst danach auch die "Wahrscheinlichkeit" in die Physik Einzug halten. Logisch oder theoretisch notwendig war diese Abfolge ja nicht. Aber: "Keine Theorie ist vollständig richtig, aber auch keine ist vollständig falsch. In der Auseinandersetzung (mit der Wirklichkeit?) wird sie immer weiter vervollkommnet." (Bolzmann)- wie in der Darwinschen "Evolution und Anpassung". Darwins Theorie ist allerdings möglicherweise die erste prinzipiell nicht beweisbare oder widerlegbare naturwissenschaftliche Theorie. Alle anderen lassen sich innerhalb ihrer Datenrahmen und Paradigmen beweisen oder widerlegen. Widerlegte Theorien sind obsolet und indiskutabel, und hinter bewiesenen braucht man nie wieder zurückzufallen. Aber Darwins Theorie ist selbstbezogen. Sie beinhaltet einen Zirkelschluß, der aber nicht notwendigerweise falsch sein muß. Das war neu und mutig. Dazu kommt, frei nach einem gewissen Biologen Pete Wheeler, Darwins Theorie hat Sex-Appeal. Erstens ist das ihr Thema, zweitens ist ihre Anziehungskraft nicht nur intellektuell, sondern auch erotisch. Eigentlich schafft sie mehr Probleme, als daß sie löst. NB: Evtl. kann das Leben unter hiesigen Bedingungen gar nicht anders als entstehen: Die Photonen werden von den Pflanzen nicht gesammelt, sondern sie schlagen so lange auf das Wasser ein, bis Leben und Chlorophyll entsteht und prügelt dann den Sauerstoff aus dem Wasser heraus. Das Leben als Abwehr gegen das Licht sozusagen. Ernst Haeckel, der Begründer des Begriffes "Ökologie" (1870), der Lehre vom "Haus" oder "Wohnort", hatte eine "Kohlenstoffdezendenztheorie", und Darwin glaubte wie Lamarck an die Vererbung erworbener Eigenschaften- es kommt wohl darauf an, was man darunter versteht. Allerdings glaubte Darwin nicht an eine evolutionäre Hierarchie. Der Erdwurm ist so gut an seine Umwelt angepaßt wie der Mensch, oder sogar noch besser. Aber was hilft es ihm? Letztendlich, so eine Meinung, war es die umwerfende Schönheit der vom europäischen Menschen noch nicht ruinierten Nordamerikanischen Landschaft, welche der Idee von der prinzipiellen Herrschaft des Menschen über die Natur eine Absage erteilte- und zur Einrichtung von Naturparks führte. Rezeption und Auswirkung: -------- Darwins sorgfältig und erst nach Jahrzehnten formulierte These des "survival of the fittest" (die anscheinend noch nicht einmal von ihm stammt!*) ist eine ganz unabhängig von der Meinung und Intention des Denkenden oder Sprechenden sehr offene Beschreibung der Vorgänge: das Überleben des oder derjenigen (Singular oder PLURAL!) in irgendeiner Form geeigneteren oder der Situation angepaßteren; wenn überhaupt, dann muß es "Das Überleben der tauglichsten" heißen- ein Wort, das im Deutschen schon fast verloren gegangen ist. Es könnte auch "Das Überleben der passendsten" heißen (to fit = passen). Dieses beschreibt sogar als eines der ersten Thesen aus der Zeit überhaupt sehr vorsichtig eine eigentliche Tautologie, oder wie man heute sagen würde: einen rückgekoppelten Regelkreis, denn jedes Lebewesen beeinflußt durch seine Aktionen auch seine Umgebung und damit seine eigenen Überlebenschancen. Wer überlebt, wenn nicht der oder die tauglichste? Darwins sorgfältige These wurde im Deutschen reduziert und brutalisiert auf das "Überleben des Stärkeren"- Singular und gewalttätig. Die Nazis der zwanziger und dreißiger Jahre griffen das auf, führten das als wissenschaftlichen Beweis für die Notwendigkeit ihrer Aktionen an - wir erinnern uns an den wissenschaftlich begründeten Sozialismus- und die Folgen sind bekannt. Außerdem meinten sie einen natürlichen Vorgang herbeirufen zu müssen... Revolution statt Evolution. ------------- * Der SPIEGEL 28/2004 (Auszug/erg.): Charles Darwin (1809 bis 1882) veröffentlicht 1859 seine Evolutionstheorie: Verwandte biologische Arten, etwa Schimpanse und Mensch, stammen von einem gemeinsamen Vorfahren ab und sind durch natürliche Selektion entstanden. Im Überlebenskampf pflanzen sich stets die Individuen am erfolgreichsten fort, die am besten an die Umwelt angepaßt sind. Alfred Russel Wallace (1823 bis 1913) entwickelt unabhängig von Darwin eine gleichartige Theorie. Beide werden zusammen am 1. Juli 1858 vorgetragen. (Charles Darwin hatte mit den Ergebnissen seiner Studien 40 Jahre lang hinter dem Berg gehalten, d. h. sie nicht veröffentlicht. Er war anscheinend reich genug, um warten zu können. Das lohnt sich!) Herbert Spencer (1820 bis 1903) setzt 1862 das geflügelte Wort "survival of the fittest" (Überleben des Tüchtigsten) in die Welt und überträgt es auf das Zusammenleben von Menschen: Sozialdarwinismus. Ernst Haeckel (1834 bis 1919) bekennt sich früh zu Darwins Theorien und erweitert sie: Die Entwicklung eines Individuums sei die Wiederholung seiner Stammesgeschichte im Zeitraffer. Theodosius Dobzhansky (1900 bis 1975) und Ernst Mayr (geb.1904) legen in zwei klassischen Werken dar, wie das stete Zusammenspiel der Gene den allmählichen Wandel der Arten und die Entstehung biologischer Vielfalt bewirkt. Mayr meinte dazu im Interview: Beide Rätsel waren, getrennt voneinander, schon zuvor gelöst. Die Genetiker wiesen nach, daß die Anpassung auf ganz kleinen Änderungen von Generation zu Generation beruht- und hatten damit das erste Problem geknackt. Die Vielfalt aber konnten sie so nicht erklären, denn die Artenzahl nimmt durch Anpassung ja nicht zu. Da waren die Systematiker weiter. Sie hatten Populationen an verschiedenen Orten verglichen und dabei festgestellt, daß sich eine Art vor allem dann in zwei neue aufspaltet, wenn eine physische Barriere -ein Meer, ein Gebirge oder auch nur, bei kleineren Arten, ein Fluß- in ihrem Verbreitungsgebiet liegt... .Wir haben festgestellt: Was die Genetiker tun und was die Systematiker glauben, paßt ja wunderbar zusammen. Man mußte beides nur noch zusammenfügen. ------ So bilden sich auf Kontinenten häufig Riesenformen von Säugetieren heraus, auf Inseln Zwergformen von großen Tieren, aber auch Riesenformen von kleinen. Die Größe eines Tieres oder einer Art ist dann von Vorteil, wenn es genügend Nahrung gibt: größere Tiere fressen kleineren alles weg. Viele unterschiedliche Arten passen sich einer speziellen Umgebung so an, daß sie einander sehr ähnlich werden, auch wenn sie völlig verschiedener Herkunft sind und in weit auseinanderliegenden Biotopen leben (Konvergenz); andererseits gibt es fast immer mehrere Lösungsansätze für ein biologisches Problem, so daß ganz unterschiedliche Tierarten im selben Biotop leben können, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise. Darwins Theorie besagt eben NICHT, was nicht überlebt kann, muß sterben - das ist die grobe und falsche deutsche Lesart- sondern was nicht stirb, überlebt. Die Artenvielfalt oder -armut einer Gegend ist abhängig von der Umwelt und weniger vom Individuum. Das Individuum ist der Evolution in jeder Hinsicht völlig gleichgültig. Deswegen sind Lebensformen so verschieden. Zwar sind diverse Ökosysteme nicht unbedingt weniger störungsanfällig als eintönige, aber zumindest weniger eintönig... ---- Das Leben kann nicht durch "Zufall" auf diesem Planeten entstanden sein, so einmal jemand ausgerechnet- Zeit und Materie reichen dafür nicht aus. Abgesehen davon, daß solche Berechnungen mit ihren Annahmen stehen und fallen- angenommen es sei so. Zielgerichtet entstanden ist es aber auch wohl nicht- es sei denn man glaubt, man selber sei das Ziel, oder etwas ähnliches; die nächste Katastrophe kann diesen Glauben schnell beenden, speziell dann, wenn danach kein glaubensfähiges Leben mehr auf diesem Planeten existiert. Es bleibt bei aller Abwägung eigentlich nur ein Ausweg: Das Leben ist weder zufällig noch zielgerichtet entstanden, sondern gezwungenermaßen. Die Evolution der Lebewesen verfolgt, ebenso wenig wie der Lauf der Planeten, einen Zweck - weder den, sich selbst unverändert zu reproduzieren (was ja besonders am Anfang zu nichts geführt hätte), noch den, sich zu perfektionieren (was ja davon das Gegenteil wäre). Es ist vielmehr umgekehrt: Bestimmte Moleküle reproduzieren sich, weil sie unter bestimmten Bedingungen aus thermodynamischen Gründen dazu veranlaßt werden, und erzeugen auf Grund der Fehler in der Reproduktion und der Varianz ihrer Umgebung die Vielfalt des Lebens. Jeder Fehler ist zunächst einmal einen neue Information (etwas erhält eine neue Form, ist danach in- einer neuen -Form), die daraufhin an Hand der sie umgebenden Realität geprüft wird, ob sie korrekt, d. h. angepaßt ("fit"!) ist oder nicht; inkorrekte Information hat keine (!) oder ungünstige Auswirkung, korrekte Information hat keine (!) oder eine günstige Auswirkung. Korrekte Information ist dann günstig, wenn sie außerdem noch brauchbar ist. Das brauchbarste, passendste (nach Darwin "the fittest") setzt sich am Ende durch. Was nicht bedeutet, daß die falsche, oder zur Zeit oder am Ort ungünstige Information nicht doch immer wieder von neuem auftaucht und immer wieder überprüft werden muß. Man denke nur an das Entstehen von Krebs. Das ist der Selektionsdruck. Gleichzeitig wird mit jedem neuen Übertragungsfehler Fehler immer mehr Information in den Genen (und seit einiger Zeit, d. h. einigen Millionen Jahren auch außerhalb der Gene) angesammelt, die immer und immer wieder überprüft daran wird, wie gut sie auf ihre Umgebung paßt- so wird aus Dummheit Intelligenz und Erkenntnis. Nichts ist dümmer und erkenntnisloser als ein Klumpen Lehm, und doch sind nach der Kleinigkeit von vier Milliarden Jahren nach und nach Lebewesen daraus entstanden, die das hier lesen können und wollen.